Das Eltern ihre Kinder unterhalten müssen, weiß jeder. Dass Kinder auch für ihre Eltern in bestimmten Fällen aufkommen müssen, dringt nach und nach in das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein. Dort angekommen ruft es sofort das Schlagwort „ungedeckte Pflegekosten“ auf, welches Unbehagen und Abscheu bei den Kindern auslöst. Aber eigentlich ist es doch gerecht, wenn die mittlerweile erwachsenen Kinder ihre Eltern unterhalten müssen; immerhin haben das die Eltern ja auch mit Hingabe getan.
Was ist aber, wenn die Eltern eben nicht alles Notwendige und mehr hingegeben haben, damit es ihren Kindern gut erging? Können Kinder es verweigern, Unterhalt für die Eltern zu zahlen, weil diese ihre Unterhaltspflicht verletzt haben. Grundsätzlich ja: Haben Eltern die eigene Unterhaltspflicht gegenüber ihren Kindern gröblich vernachlässigt, so brauchen die Kinder nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung fällt ganz weg, wenn die Inanspruchnahme der Kinder grob unbillig wäre, § 1611 BGB.
In einem aktuellen Fall, den der für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschieden hat, kam es zum Streit zwischen dem Sozialamt, das den Unterhalt für die pflegebedürftige Mutter geltend machte, und dem Sohn. Die Mutter, die sich seit April 2005 in einem Pflegeheim befindet, litt schon während der Kindheit des Beklagten an einer Psychose mit schizophrener Symptomatik und damit einhergehend an Antriebsschwäche und Wahnideen. Sie hat ihren Sohn nur bis zur Trennung und Scheidung von ihrem damaligen Ehemann im Jahr 1973 - mit Unterbrechungen wegen zum Teil längerer stationärer Krankenhausaufenthalte - versorgt. Seit spätestens 1977 besteht so gut wie kein Kontakt mehr zwischen dem Sohn und seiner Mutter.
Der Sohn wandte ein, dass ihn seine Mutter als Kind nie gut behandelt habe. Es würde eine unbillige Härte bedeuten, wenn er gegenüber dem Sozialhilfeträger kraft Rechtsübergangs für den Unterhalt der Mutter aufkommen müsste.
Das sah der Familiensenat anders: Eine psychische Erkrankung, die dazu geführt hat, dass der pflegebedürftige Elternteil der früheren Unterhaltsverpflichtung seinem Kind gegenüber nicht gerecht werden konnte, nicht als ein schuldhaftes Fehlverhalten im Sinne des § 1611 BGB mit der Konsequenz eines Anspruchsverlustes betrachtet werden kann.
Wegen der vom Gesetz geforderten familiären Solidarität rechtfertigen die als schicksalsbedingt zu qualifizierende Krankheit der Mutter und deren Auswirkungen auf den Beklagten es nicht, die Unterhaltslast dem Staat aufzubürden. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn ein erkennbarer Bezug zu einem Handeln des Staates vorliegt, also etwa dann wenn die psychische Erkrankung des unterhaltsberechtigten Elternteils und die damit einhergehende Unfähigkeit, sich um sein Kind zu kümmern, auf seinem Einsatz im zweiten Weltkrieg beruhte. Soziale Belange, die einen Übergang des Unterhaltsanspruchs auf die Behörde ausschließen, können sich auch aus dem sozialhilferechtlichen Gebot ergeben, auf die Interessen und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen. Der Ausschluss des Anspruchsübergangs auf den Sozialhilfeträger bleibt damit auf Ausnahmefälle beschränkt.
BGH, Urteil vom 15. September 2010 - XII ZR 148/09